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  • Historischer Besuch in Magdeburg: Liebe hat ihre Grenzen

    Der UEFA-Cup führt 1977 zusammen, was erst viele Jahre später zusammenwachsen soll: Ost und West. Der 1. FC Magdeburg und Schalke 04 stehen sich in der zweiten Runde des Europapokals im deutsch-deutschen Duell gegenüber. Für die Königsblauen ein Fiasko in zwei Akten. Für die zahllosen Knappen-Fans in der DDR ein lange herbeigesehnter Festtag.


    AUF SCHALKE


    16.09.2023

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    Zahllos ist die passende Vokabel für das ummauerte Schalker Fantum. Was weniger an fehlenden Statistiken als vielmehr am vorhandenen System liegt. Wer sich westliche Tendenzen nachweisen lässt, hat im selbsternannten Arbeiter- und Bauernstaat nichts zu bestellen und muss Repressalien fürchten. S04-Fans gibt es genug. Zum einen aufgrund der erfolgreichen 1930er-Jahre, Kuzorra und Kreisel. Zum anderen können sich mit dem Kumpel-Verein gerade Bürger identifizieren, die selbst aus Städten kommen, in denen man sich noch die Hände schmutzig macht. Wie Magdeburg, das von Schwerindustrie und Chemie geprägt ist: „Magdeburg ist eine reine Malocherstadt. Deswegen haben wir viele Gemeinsamkeiten mit dem Ruhrpott“, erklärt Holger Constabel, Vorsitzender des Fanclubs Königsblaue Domspatzen Magdeburg.*


    Zitat
    Das ist ja wie Weihnachten.
    Magdeburger Fans

    Constabel ist 1977 dabei, als die Schalker zum Hinrundenspiel am 19. Oktober anrollen. Mit Vereinen aus dem Westen haben die Fans hinter dem Eisernen Vorhang bis dahin schlechte Erfahrungen gemacht. 1974 waren die großen Bayern da und verweigerten das Essen. Lieber brachten sie ihren eigenen Proviant mit und ließen auch sonst kein diplomatisches Fettnäpfchen aus. „Auch die Fans von Mönchengladbach waren 1975 sehr arrogant“, erinnert sich Constabel. 1977 gilt es nun, die Schalker Abordnung am Hauptbahnhof gebührend in Empfang zu nehmen. Eine alte Sitte und in der Vergangenheit mit mancher Keilerei verbunden. Doch was dann passiert, kann getrost als Verbrüderung verbucht werden. „Schalke, Schalke!“ und „Fischer, Fischer!“-Schlachtgesänge schleudern die Magdeburger Fans den Knappen-Getreuen entgegen. Die revanchieren sich mit haufenweise blau-weißen Gastgeschenken. Wimpel, Anstecknadeln und Poster wechseln die Besitzer, und die Magdeburger staunen nur: „Das ist ja wie Weihnachten.“

    Der Schalker Vereinstross passiert die Grenze per Bus. Bis Braunschweig scheint die Sonne, den Übergang Helmstedt-Marienborn umwabert graues Waschküchenwetter – Klischee olé. Als die Delegation am Interhotel anrollt, haben bereits rund 1000 Magdeburger das Gebäude umlagert, wollen unbedingt einen Blick auf die Profis aus dem Westen werfen. Die haben überhaupt keine Berührungsängste, werfen 10.000 Autogrammkarten, Fahnen und Wimpel in die jubelnde Menge. „Wenn die Jungs schon nicht zu uns kommen können, dann müssen wir eben zu ihnen gehen“, kommentiert Klaus Fischer die Szene, in der ihm schon die nächste Fahne aus der Hand gerissen wird. Erwin Kremers wagt später gar einen Stadtbummel – weit kommt er nicht: 1000 Autogramme, 500 Anstecknadeln und sechs Paar Fußballschuhe hat er in einer Sporttasche dabei. Hatte. Selbst die Tasche verschwindet auf Nimmerwiedersehen im Gewühl.

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    Das Interhotel bleibt hermetisch abgeriegelt, Volkspolizei bewacht das Objekt mit dem Klassenfeind darin streng. Trotzdem können die Schalker immer wieder kleine Fan-Grüppchen reinschleusen. Auf den Zimmern diskutieren sie, reißen geistige Mauern ein: „Das war wie ein Feiertag, vor allem für mich als 14-jährigen Dötz“, erinnert sich Constabel, „denn da wurden richtige Freundschaften geschlossen. Bis zur Wende haben wir uns jedes Jahr getroffen.“ Für ein Ehepaar aus der Nähe von Karl-Marx-Stadt wird der Spaß plötzlich zum bitteren Ernst. Hartmut und Renate Fleischer, Freunde des Schalker Geschäftsstellenleiters Willi Regenhardt, wollen erst im Auto übernachten, schlafen dann auf Einladung von Mannschaftsbetreuer Charly Neumann im Hotel. Ein großer Fehler, denn das ist ohne polizeiliche Anmeldung nur Schalkern und treuen Funktionären gestattet. Am nächsten Morgen steht der Staatssicherheitsdienst vor der Tür und will die Fleischers verhaften. Charly springt in die Bresche: „Es ist alles meine Schuld. Lasst die beiden laufen.“ Nach kurzer Absprache verschwinden die Geheimpolizisten.

    Auch Wolfgang Brauer aus der Lutherstadt Wittenberg macht so seine Erfahrungen, was es heißt, als Schalker ein jahrzehntelanges Auswärtsspiel zu bestreiten. Anfang der 1960er-Jahre fällt ihm ein Fußballmagazin aus dem Westen in die Hände. Besonders fesselt ihn ein Bericht über Ernst Kuzorra, wie er am alten Schalker Markt mit einem Ball bolzte, der aus Lumpen zusammengeflickt war. Und das mit den guten Schuhen für den Kirchgang. Das Feuer ist entflammt und beschert dem nun bekennenden Schalke-Fan Brauer heiße Zeiten mitten im Kalten Krieg. Von der Schule wird er verwiesen, weil er beim Handball einen Schalker Trainingsanzug trägt, den die Mutter ihm provisorisch geschneidert hat. „Es gab ja keine Vereinsutensilien. Ich habe gebettelt, dass die Verwandten mir was aus dem Westen mitbringen, aber die hatten mit Fußball nix am Hut“, erklärt er. Höchstens ein „kicker“-Sonderheft findet mal seinen Weg. Für die Fans eine Bibel. Brauer trifft sich mit Gleichgesinnten, fachsimpelt mit ihnen tagelang über die minutenkurzen Reportagen im West-Fernsehen.

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    Mit dem Europapokalspiel geht ein Traum in Erfüllung. Doch die Kartensuche wird zum Albtraum: „Man kam kaum dran. Unter den 35.000 Zuschauern waren alleine 7000 Sicherheitskräfte“, erzählt Brauer, der schließlich über eine Bekannte von Bekannten von Bekannten das Ticket ins Glück bekommt, weil das Mädel sich ohne ihren Freund nicht ins Stadion traut. Den Aufdruck kann Brauer noch heute rückwärts im Schlaf runterbeten: „Stehplatz, Block M2, Rentner/Studenten“ – inmitten der gegnerischen Magdeburg-Fans. Die Schalker Kurve bleibt von der NVA-Kampfgruppe hoffnungslos verbarrikadiert.

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    Die Stimmung ist indes freundschaftlich. Arm in Arm marschieren FCM- und S04-Anhänger ins Ernst-Grube-Stadion. Die Rollen sind klar verteilt: Hier mehr als 30.000 Magdeburger, dort 2000 Schalker. Die Liebe hat ihre Grenzen, auch wenn’s schwerfällt: „Da schlugen zwei Herzen in der Brust. Am Ende haben wir gesagt, wir halten zum Besseren“, erinnert sich Holger Constabel, „und das war ja dann der FCM.“ Wohl wahr. Ohne Klaus Fichtel, Jürgen Sobieray, Norbert Dörmann, Manfred Ritschel und Ulrich Bittcher muss der FC Schalke 04 auflaufen, verliert während des Spiels auch noch Erwin Kremers und Herbert „Aki“ Lütkebohmert. Wolfgang Brauer ist sauer, denn er hält den Knappen die Treue: „Ich dachte: Was wollen wir denn mit dieser Truppe?“ Vor dem berühmten Angriffstrio Joachim Streich, Jürgen Sparwasser und Martin Hoffmann haben die Königsblauen höchsten Respekt. Zu recht: Der S04 wird fast im Alleingang vom dreimaligen Torschützen Sparwasser nassgemacht. Mit 4:2 gewinnt der FCM das Hinspiel. Brauer bleibt Optimist: „Wenn Schalke das im Rückspiel nicht umbiegt, trinke ich ein halbes Jahr keinen Alkohol“, gelobt er in seiner Stammkneipe. Prost Mahlzeit!

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    Das Vorspiel zum Rückspiel folgt am 2. November und ist kein Vergleich zum Empfang in Magdeburg. Gerade mal 624 ostdeutsche Fans dröppeln spätnachmittags am Gelsenkirchener Hauptbahnhof aus dem Sonderzug Nr. 26910. Elite-Fans. Fans mit Verdiensten. „Parteibonzen“, wie Holger Constabel sie nennt. Mit Martinshörnern und Sprechchören laufen sie einem überschaubaren Begrüßungskomitee entgegen. Verwandte schließen Verwandte in die Arme. Eine junge Frau sucht in der Reisegruppe vergeblich nach ihrem Bruder. „Vielleicht war er nicht linientreu genug“, schluchzt sie mit Tränen in den Augen einem Reporter in den Block. Aus Angst vor Randale hält die Polizei alles von den Gleisen fern, was nach S04-Fan aussieht. „Schaalke, Schaalke!“, dröhnt es vor dem Bahnhof aus heiseren Kehlen. Die Magdeburger schauen etwas belustigt, bleiben aber diszipliniert. Ärger liegt nicht in der Luft. Der folgt am Abend …


    Zitat
    Viel mehr hat mich aber geärgert, dass in Gelsenkirchen nur ausgesuchte Stasi-Fans jubeln durften.
    S04-Fan Wolfgang Brauer

    Denn leider ist das Schalker Lazarett besser besucht als die Umkleidekabine. Die notdürftig zusammengewürfelte Mannschaft hat kein Gesicht, von Klassenkampf kann schon gar nicht die Rede sein. Zeitweise wirkt der Tabellenzweite der Bundesliga vollkommen konzeptlos. Der FCM – in beiden Duellen mit Wolfgang Seguin, dem Vater des heutigen S04-Profis Paul, am Ball – streut schnell Salz in die Wunde. Nach 20 Minuten liegt Schalke 0:2 hinten, verliert am Ende mit 1:3. Von den anfangs mehr als 70.000 königsblauen Anhängern im ausverkauften Parkstadion ist beim Schlusspfiff nicht mal mehr ein Viertel anwesend. Nur 624 Fans jubeln und lassen den königsblauen Wolfgang Brauer vor seinem Fernseher in der DDR rot anlaufen: „Ich hab mich wahnsinnig geärgert über das Aus. Ich hatte die Hoffnung, dass Schalke als West-Mannschaft gegen die kleine DDR seine Überlegenheit beweisen würde. Viel mehr hat mich aber geärgert, dass in Gelsenkirchen nur ausgesuchte Stasi-Fans jubeln durften.“

    Wie Brauer verfolgt auch Holger Constabel das Duell hinter der Mauer vor dem Fernseher. Er jubelt. Bei aller Liebe. Das deutsch-deutsche Duell hat seine Beziehung zum Revierclub dennoch erst recht vertieft. Er gründet den Fanclub Domspatzen Magdeburg, verwandelt sein Zimmer in einen blauen Salon mit Fan-Utensilien, die Verwandte mehr als einmal ins Land schmuggeln. Den Kontakt zu Schalke 04 stellt sonst nur die Sportschau her. Ein Heiligtum, weil das Höchste der Gefühle. Der Besuch eines Heimspiels bleibt für Constabel wie für fast alle Schalke-Fans in der DDR ein schier unerreichbarer Wunschtraum. Als 1989 das Wunder geschieht und die Mauer fällt, hat er nur ein Ziel: Er will seine Schalker sehen. Mit stolzen 5000 Magdeburgern fährt er am 2. Dezember nach Braunschweig. Zweitliga-Tristesse für die meisten, für die entfesselten Fans ein unvergessliches Erlebnis. Unter ihnen ist auch Wolfgang Brauer, der mit Tochter und Trabi angereist ist. Mit dem langjährigen Schalker Zeugwart „Flori“ Simon pflegt er eine Brieffreundschaft, kämpft sich so bis in den Innenraum vor. Nach dem 2:2 gibt es kein Halten mehr – Brauer rennt auf Stürmer Vladimir Ljuty zu und fällt ihm um den Hals: „Das war das erste Mal, dass ich einen Russen geküsst habe“, sagt Brauer und lacht. Im Ernst.

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    Während mancher Geist die Wende nicht vollziehen mag, erweist sich der Fußball wieder einmal als völkerverbindend: „Als Fußballfan habe ich noch nie eine Schranke im Kopf gehabt“, versichert Brauer: „Ich bin Fan von einer Mannschaft. Das hat überhaupt nichts mit irgendeinem System zu tun.“ – „Ost/West, das gibt es für uns nicht mehr“, bekräftigt auch Constabel, der so einiges nachholt, was ihm so viele Jahre verwehrt worden war: 1996/1997 fliegen seine Domspatzen zu sämtlichen UEFA-Cup-Spielen. Elf Dauerkarten sichern sie sich für die Arena, sind daheim wie auswärts bei jedem Spiel dabei. Auch Wolfgang Brauer besucht regelmäßig Auswärtsspiele, soweit sein Schichtdienst es zulässt. Ob in Rostock oder in Mailand, eins stellt er immer wieder fest: „Erst im Nachhinein merkt man, wie viele Schalke-Fans es in der DDR gegeben hat. Sie konnten sich nur nicht trauen, es offen zu zeigen.“


    Info

    *Dieser – leicht aktualisierte – Beitrag ist 2015 in der offiziellen Vereinschronik „Königsblau – Die Geschichte des FC Schalke 04“ erschienen; Herausgeber FC Schalke 04; Verlag Die Werkstatt, 704 Seiten, zahlreiche Abbildungen, ISBN: 978-3-7307-0204-8